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Forderungspapier der Behindertenbeauftragten des Bundes und der Länder
zur inklusiven schulischen Bildung
Qualitativ hochwertige inklusive schulische Bildung in allen Bundesländern gewährleisten – Forderungspapier der Behindertenbeauftragten des Bundes und der Länder zur inklusiven schulischen Bildung
Die UN-Behindertenrechtskonvention (UN-BRK) gilt seit ihrer Ratifizierung 2009 in Deutschland im Range eines Bundesgesetzes. Art. 24 UN-BRK verpflichtet Deutschland ein inklusives Schulsystem sicherzustellen. Damit haben Menschen mit Behinderungen das Recht auf eine diskriminierungsfreie inklusive Beschulung (Art. 5 UN-BRK, Art.3 Abs.3 S.2 GG)2.
Aktuelle Zahlen der Kultusministerkonferenz (KMK) zeigen jedoch, dass das Menschenrecht auf inklusive Bildung in Deutschland noch immer nicht flächendeckend gewährt wird: Von den 582.400 Schülerinnen, die im Jahr 2020 sonderpädagogisch gefördert wurden, besuchten rd. 56% eine Förderschule und rd. 44% eine allgemeine Schule. Der Anteil von inklusiv beschulten Schülerinnen mit sonderpädagogischer Förderung ist damit zwar von 25% im Jahr 2011 auf 44% im Jahr 2020 gestiegen. Zugleich stieg aber auch der Anteil der SchülerInnen mit sonderpädagogischer Förderung an allen Schülerinnen. Dies führt dazu, dass die Förderschulbesuchsquote im gleichen Zeitraum nur leicht von 4,7% auf 4,3% gesunken ist.
Eine in den Bundesländern seitens der Beauftragten vorgenommene Abfrage untermauert die KMK-Daten.
Mit Sorge stellen wir zudem fest, dass einzelne sonderpädagogische Förderbedarfe bundesweit zunehmen. Dabei handelt es sich in erster Linie um Bedarfe der geistigen und der emotional-sozialen Entwicklung. Bedarfslagen im Autismus-Spektrum und im Bereich Lernen folgen dieser Tendenz.
Hierzu sind die Quellen als Fußnoten gekennzeichnet und benannt:
1 Aufbauend auf die Hannöversche Erklärung der Beauftragten von Bund und Ländern für die Belange von Menschen mit Behinderungen vom 22. Juni 2018.
2 Ergänzend sind die Zugänglichkeit bzw. Barrierefreiheit (Art. 9 UN-BRK), das Gebot der angemessenen Vorkehrungen (Art. 5 Abs. 3 UN-BRK) sowie die im Grundgesetz normierte Chancengleichheit (Art. 12 Abs. 1 GG) zu
berücksichtigen.
Nennung der Quellen Ende.
Alarmierend ist außerdem, dass von den Schüler*innen, die im Jahr 2020 die Bildungsgänge an Förderschulen beendeten, rund 73% die Schule ohne Hauptschulabschluss verließen (vergleich KMK-Statistik).
Einige Bundesländer sind bei der Transformation zu einem inklusiven Schulsystem bereits
auf einem guten Weg. Dass eine Reihe von Bundesländern ihrer gesetzlichen Verpflichtung, ein inklusives Regelschulsystem und die bildungspolitischen Voraussetzungen dafür zu schaffen, nicht nachkommt, entspricht aus Sicht der Beauftragten jedoch einer grenzwertigen Fehlinterpretation föderalismusintendierter Gestaltungs- und Freiheitsrechte.
Die Dualstrukturen, bestehend aus einem höchst ausdifferenzierten Förderschulsystem und inklusiv ausgerichteten allgemeinen Schulen, sind grundsätzlich und angesichts eines länderübergreifenden Personalnotstandes dringend zu überprüfen. Die Installierung inklusiver Bildungsangebote erfordert eine inklusive Grundhaltung, kostet Zeit, Ressourcen, zielt auf Bewusstseinsbildung und benötigt Durchsetzungsfähigkeit.
Weite Teile der Bundesrepublik bedürfen sowohl in bildungsstruktureller als auch in bildungspolitischer Hinsicht einer Neuausrichtung.
Inklusion als Qualitätsmerkmal eines durchlässigen und demokratischen Schulsystems ist
kein Auftrag, dessen Umsetzung unter den Vorbehalt von beispielsweise Ressourcen, Haushalten oder Rahmenbedingungen gestellt werden kann. Sie ist schulisches Primärziel für alle sonderpädagogischen Förderbedarfslagen, sie ist zugleich Inhalt und Methode. In einem inklusiven Schulsystem existieren grundsätzlich keine geteilte Zuständigkeit und kein formaler Verweis auf Professionen außerhalb des inklusiven Settings.
Um Inklusion in der schulischen Bildung einschließlich Erziehung, Betreuung und Förderung fest zu verankern, bedarf es über die Verpflichtungen aus der UN-BRK hinaus Regelungen in den Landesgesetzen, die explizit zur Inklusion verpflichten. Das Kernziel muss die allgemeine Schule mit sonderpädagogischer Grundversorgung sein, die wirksame Kooperationen in multiprofessionellen Teams beinhaltet.
Im Einzelnen sind aus Sicht der Beauftragten folgende Schritte für eine erfolgreiche Transformation erforderlich:
1. Hochwertige inklusive Bildung gewährleisten
Inklusive Schulen sind nur dann für Schüler*innen und Erziehungsberechtigte attraktiv, wenn im inklusiven Unterricht für alle ein hohes Qualitätsniveau gewährleistet ist. Hierzu ist erforderlich, dass inklusive Regelschulen fachlich, personell und sächlich bedarfsgerecht ausgestattet und im Sozialraum verankert sind.
Inklusive allgemeine Schulen müssen zudem flächendeckend wohnortnah vorhanden und bedarfsorientiert ausgerichtet sein.
Jede Schule hat sich mit der Frage auseinanderzusetzen, was es heißt, inklusiv zu sein (Haltung/Einstellung/Menschenbild/Leistungsbegriff) und ein inklusives Schulentwicklungskonzept zu erarbeiten. Um die Schulen auf diesem Weg zu begleiten, ist eine Schulentwicklungsberatung anzubieten.
Zudem müssen Schulen, die umfassend inklusiv beschulen möchten oder sich bereits inklusiv ausgerichtet haben, finanzielle und personelle Anreize gewährt werden.
Die Entwicklung einer inklusiven Bildung erfordert eine wissenschaftliche Begleitforschung/Evaluation in Form einer partizipativen Teilhabeforschung.
Es bedarf einer Ursachenforschung, warum es bundesweit zu einem Anstieg der Förderschüler*innen, insbesondere in den Bereichen der geistigen und der emotional-sozialen Entwicklung gekommen ist.
2. Transformation zügig und strukturiert voranbringen
Parallelstrukturen zwischen Förderschulbesuch und inklusiver Beschulung sind zugunsten letzterer konsequent abzubauen und weitestgehend aufzulösen. Ein Ausbau der Förderschulstrukturen und neuer Förderschulstandorte darf nicht erfolgen.
Förderschulen könnten zum Beispiel umstrukturiert und für Kinder ohne Behinderungen geöffnet werden.
Darüber hinaus könnten mobile Teams zur Förderung von Kindern mit Behinderungen in inklusiven Settings ausgebaut oder das Personal von Förderschulen in inklusive allgemeine Schulen umgesetzt werden.
Solange Förderschulen bestehen, darf die Wahlfreiheit der Eltern zwischen allgemeiner Schule und Förderschule nicht durch die Formulierung eines Ressourcenvorbehaltes eingeschränkt werden.
3. Unabhängige Förderdiagnostik, individuelle Förderplanung, erforderliche Nachteils- ausgleiche und Hilfsmittel gewähren
Die Förder- und Prozessdiagnostik hat schulunabhängig zu erfolgen. Dabei muss es stets um die Diagnostik des sonderpädagogischen Förderbedarfs und nicht um die Diagnostizierung der Förderschulbedürftigkeit gehen. Das an sonderpädagogischen Förderschwerpunkten orientierte Feststellungsverfahren ist nicht mehr zeitgemäß.
Für Kinder und Jugendliche mit Förderbedarf ist seitens der pädagogischen Verantwortlichen eine individuelle Förderplanung zu erstellen, die regelmäßig überprüft und fortgeschrieben wird. Die aktive Einbindung der Schüler*innen und ihrer Erziehungsberechtigten ist dabei ein wichtiger Bestandteil.
Für Erziehungsberechtigte sind Beratungsangebote zur Verfügung zu stellen.
Kinder mit Behinderungen sollten von Beginn an inklusiv beschult werden. Kinder in Förderschulen sollten darin unterstützt werden, den Übergang in eine allgemeine Schule zu erreichen.
Es ist ein Übergangsmanagement zwischen den verschiedenen Etappen der Bildungsbiographie zu gewährleisten (Kita-Grundschule, Grundschule-weiterführende Schule, Schule-Ausbildung). Übergänge müssen im Hinblick auf die Anschlussfähigkeit und die nachhaltige individuelle Lernförderung stets stärkenorientiert ausgerichtet und sensibel aufeinander abgestimmt werden.
Schüler*innen mit Förderbedarf sind zudem die erforderlichen Nachteilsausgleiche und individuellen Hilfsmittel zeitnah und bedarfsgerecht zu gewähren. Dies ergibt sich aus dem Recht auf angemessene Vorkehrungen nach Art. 2 und Art. 5 Abs. 3 UN-BRK. Das Personal der bewilligenden Behörden ist entsprechend zu instruieren und fortzubilden.
4. Inklusive Schulen mit qualifiziertem Personal bedarfsgerecht ausstatten
Qualitativ hochwertiger inklusiver Unterricht gelingt nur mit multiprofessionellen Teams, die möglichst aus einer Ressortverantwortung gestellt werden. Neben Lehrkräften müssen vor allem auch Therapeut*innen, Schulpsycholog*innen, (Sozial-) Pädagog*innen sowie Assistent*innen und Pflegekräfte je nach Bedarf ihren Einsatz finden. Die Teams benötigen Zeit und Raum u.a. für Supervision, Förderplanung und „Fallbesprechungen“. Die aktive Einbindung der Schüler*innen und ihrer Erziehungsberechtigten ist dabei ein wichtiger Bestandteil.
In der Aus-, Fort- und Weiterbildung aller Lehrkräfte ist das Thema „Inklusive Bildung“ schulformübergreifend verpflichtend modular zu belegen.
Darüber hinaus sollten auch an Hochschulen sowie anderen Bildungseinrichtungen Lehrende zur inklusiven Bildung qualifiziert werden, wie bspw. im Projekt „Inklusive Bildung“, in dem Menschen mit Behinderungen als Bildungsfachkräfte ausgebildet werden.
Die praktische Lehrer*innenausbildung (z.B. Referendariat) hat stets auch in inklusiven Settings zu erfolgen.
Den allgemeinen Schulen sind Stundenkontingente sonderpädagogischer Kompetenz unabhängig vom Vorhandensein sonderpädagogischer Förderbedarfslagen zuzuweisen. Eine Doppelbesetzung jeder Klasse ist dabei in der Regel anzustreben. Förderschullehrkräfte sollten demnach Stammpersonal an allgemeinen Schulen sein. Bei spezifischen Förderbedarfen ist ggf. zusätzliches Personal vorzusehen.
Unabhängig von der Schulform sollte es regelmäßige verpflichtende Fort- und Weiterbildungen für das gesamte Kollegium einer Schule in Bezug auf das Thema „Schulische Inklusion“ geben.
In allen Schulformen sind zeitliche Kontingente vorzusehen für die Erarbeitung, Fortschreibung und Umsetzung des inklusiven Schulkonzepts, von Förder- und Entwicklungsplänen sowie der Präventionsarbeit (z.B. um der Entstehung sonderpädagogischen Bedarfs frühzeitig entgegenzuwirken). Zudem sollte eine Vernetzung mit weiteren Akteur*innen über den Lernort Schule hinaus erfolgen (gelebte Sozialraumorientierung).
Die Schulassistent*innen sowie Begleit- und Assistenzleistungen müssen an allen schulischen und außerschulischen Lernorten oder in Kooperation vorgehalten werden. Es ist wichtig, dass das Personal, einschließlich der Schulassistent*innen „wie aus einer Hand“ gestellt wird.
Das Tätigkeitsfeld der Schulassistent*innen muss attraktiver und formal aufgewertet werden. Dies muss zu einer höheren Stellenbewertung führen und auf die Bedarfe aller Schüler*innen mit Behinderungen ausgerichtet sein (z.B. der Erwerb von Autismus spezifischen Kenntnissen).
Das Pooling von Schulassistenzen sowie Begleit- und Assistenzleistungen ist ein häufiges Mittel der Bedarfsdeckung. Individuelle Förderbedarfe müssen dabei immer im Vordergrund stehen.
Die Deutsche Gebärdensprache muss als Wahlpflichtfach für eine Fremdsprache je nach Bedarf an den allgemeinbildenden Schulen als gleichwertiges Unterrichtsfach von Klasse 1 bis 13 vorgehalten werden. In den Förderschulen mit Schwerpunkt Hören muss die Deutsche Gebärdensprache selbstverständlicher Bestandteil des Stundenplans sein.
Zur bedarfsgerechten Fachkräftegewinnung, -Ausbildung und -Qualifizierung sind gezielte Maßnahmen der Nachwuchsförderung und Werbe- sowie Einstellungskampagnen notwendig.
5. Bauliche, technische und digitale Barrierefreiheit gewährleisten
Im Rahmen ihrer Schulentwicklungsplanung haben alle Schulträger eine umfassende, fristgerechte und für alle Schulformen geltende bauliche und technische Barrierefreiheit zu gewährleisten. Hierbei sind verbindliche Richtlinien, Bundes- und Landesgesetze sowie DIN-Normen zu berücksichtigen.
Lehr- und Lernmaterialien sind für das analoge und digitale Lernen barrierefrei vorzuhalten.
In allen Schulen sind Differenzierungs- und Bewegungsräume sowie Rückzugsmöglichkeiten zu schaffen. Barrierefreie digitale Teilhabe für alle Schüler*innen ist lernortunabhängig und permanent als Alternative zur Präsenzpflicht zu gewährleisten.
Lehrkräfte sind in der Anfertigung und Bereitstellung barrierefreier digitaler Dokumente und Formate zu schulen. Der Breitbandausbau ist umfassend sicherzustellen und die Hard- und Software muss barrierefrei sein.
Lernmanagementsysteme sind barrierefrei auf- und auszubauen – sowohl technisch als auch auf das Unterrichtsmaterial bezogen.
Digitalassistent*innen sind flächendeckend einzusetzen. Sie haben die Aufgabe, Schüler*innen individuell zur Digitalkompetenz zu befähigen – von der Ansteuerung von Endgeräten bis hin zur Programmnutzung.
Medien- und informationstechnikbezogene Unterrichtsfächer beinhalten auch die Vermittlung von Kenntnissen zur digitalen Barrierefreiheit.
Ende des Forderungspapiers
Berlin, den 9. Dezember 2022